Yathabhutam Sicht

Yathabhutam ist ein Begriff aus dem Sanskrit und bedeutet „wie es wirklich ist“.
In der Wisdom Library wird er im buddhistischen Kontext als ein Verstehen der Realität beschrieben. Dabei geht es um das Erkennen der tatsächlichen Natur von Existenz und Leiden – so, wie sie durch den Tathagata gelehrt wurde. Dieses Erkennen gilt als Grundlage für tiefere Einsicht und den Weg zur Befreiung.
Mit welchen Augen schauen wir in die Welt?
Diese Frage steht im Zentrum des folgenden Teisho. Es geht darum, wie Wahrnehmung funktioniert, wie Sichtweisen entstehen – und welche Auswirkungen diese auf das Denken, Fühlen und Handeln haben können. Der Begriff Yathābhutam taucht auch im Lankavatara Sutra auf. Dort wird er nicht ausführlich behandelt, doch seine Präsenz lädt zur weiteren Beschäftigung ein.
Aufwachen am Morgen
Am Morgen, noch halb im Schlaf, beginnt der neue Tag. Die Augen öffnen sich, die ersten Bewegungen laufen fast automatisch ab: ein Griff zum Lichtschalter, der Weg ins Bad, vielleicht ein grüner Tee in der Küche.
Manchmal ist da noch ein Rest vom Traum – vage, bruchstückhaft. Einzelne Szenen oder Gefühle bleiben kurz hängen, aber das Meiste verflüchtigt sich. Das Traumgeschehen lässt sich nicht festhalten.
Der Kopf ist in dieser Phase noch leer. Erst nach und nach tauchen Gedanken auf. „Was war gestern?“ – Bilder, Gespräche, Aufgaben drängen sich ins Bewusstsein. Es entsteht wieder Orientierung.
Mit diesen Erinnerungen kehrt auch das Gefühl zurück: „Das bin ich.“ Die eigene Geschichte baut sich wieder auf. Nicht neu, sondern genauso, wie sie bekannt ist. Der Alltag, das Leben, die eigene Rolle – alles kommt zurück wie ein vertrautes Drehbuch.
Meine persönliche Geschichte ist geprägt durch Erlebnisse, Beziehungen, durch das, was gelungen ist – und durch das, was wehgetan hat. Erfolg, Gewinn, sinnliche Freude, Kränkungen, Verluste, Eifersucht, Ängste – sie alle hinterlassen Spuren. Aus ihnen formt sich das, was als „Identität“ erlebt wird.
Gebunden in der eigenen Sichtweise
Mit der eigenen Geschichte im Gepäck richtet sich der Blick auf die Welt. Auf das, was als «Mein Ich» und «Meine Welt“ erlebt wird. Und schon hier zeigt sich: Diese Welt wird nicht frei gesehen. Wir blicken mehr durch eine tief gefärbte Brille.
Warum?
Weil das Selbst, oder auch das Ego, unentwegt wertet. Es urteilt – oft blitzschnell – und das meist so, dass es zu den eigenen Vorlieben oder Abneigungen passt. Alles wird eingeordnet: gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm, nützlich oder störend.
Weil das Selbst, oder auch das Ego, unentwegt wertet. Es urteilt – oft blitzschnell – und das meist so, dass es zu den eigenen Vorlieben oder Abneigungen passt. Alles wird eingeordnet: gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm, nützlich oder störend.
Doch ist das schon die Yathabhutam Sicht? Die Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind?
Wohl kaum.
Wohl kaum.
Gedanken als Nahrung für das Selbst
Die Orientierung, die sich morgens aus Erinnerung aufbaut, braucht ständig Nachschub. Damit dieses Selbst bestehen bleibt, braucht es etwas, das es am Leben hält: Gedanken.
Ununterbrochene Gedanken – meist dualistischer Natur – füttern dieses Selbstgefühl. Gäbe es keine Gedanken, wäre es still. Und mit dieser Stille würde auch das Selbst an Gestalt und Bedeutung verlieren.
Das Selbst ist dabei nicht wählerisch. Es nimmt alles – auch das, was weder dem Körper noch dem seelischen Gleichgewicht guttut.
Ein paar Beispiele:
- Ein Werbeplakat zeigt ungesundes Essen oder ein alkoholisches Getränk. Es ist bekannt, dass es nicht gut ist – doch ein Gedanke taucht auf: „Probier’s.“ Und schon entsteht ein Impuls.
- Ein brutaler Film, ein grausames Buch – es wird konsumiert, das Kopfkino läuft. Und nicht selten taucht sogar so etwas wie Freude daran auf.
- Selbst Sorgen und Leiden nähren dieses Selbst. Wir können nicht genug davon bekommen.
Diese Liste liesse sich leicht fortsetzen. Doch an dieser Stelle genügt vielleicht ein Innehalten. Nicht, um zu beurteilen und werten – sondern um zu erkennen, wie unbewusst vieles geschieht, solange Gedanken die Kontrolle haben.
Zazen und Gewahrsein
In der Zazen-Praxis lautet die Anweisung beim Auftauchen von Gedanken:
Wahrnehmen – aber sich nicht darauf einlassen.
Wahrnehmen – aber sich nicht darauf einlassen.
Die Gedanken werden nicht weggedrückt. Aber auch nicht festgehalten. Sie sollen einfach vorbeiziehen – wie Wolken am Himmel.
Diese Haltung nennt sich „reines Gewahrsein“. Und dieses Gewahrsein hat eine überraschende Wirkung: Es langweilt die Gedanken. Sie verschwinden, weil sie nicht mehr gefüttert werden.
Ein Blick ohne Bewertung
Wenn es gelingt, mit reinem Gewahrsein auf die Welt zu schauen – also ohne gleich zu beurteilen oder zu werten –, dann wird dem Selbst die Nahrung entzogen.
Vielleicht entsteht auf diese Weise ein Blick, der näher an das kommt, was in den buddhistischen Texten mit Yathabhutam gemeint ist: Die Dinge sehen, wie sie wirklich sind.
Ein Rezept dafür gibt es nicht. Auch keine Übungsanleitung. Aber was helfen kann, ist Selbstbeobachtung. Nicht, um sich selbst zu beurteilen – sondern um das eigene Ego besser kennen zulernen.
Nur wahrnehmen – und dabei Schritt für Schritt die Muster der eigenen Konditionierung durchschauen. Darin könnte der Schlüssel liegen. Dazu eine schöne Zen-Geschichte.
Der Reiter und sein Pferd (Zen Geschichte)
Ein Wanderer steht am Wegesrand, als aus der Ferne plötzlich eine staub aufwirbelnde Gestalt auftaucht – ein Reiter stürmt heran, auf seinem Pferd galoppierend. Als der Wanderer nähertritt, ruft er dem Reiter zu:„Wohin des Weges?“
Darauf lässt der Reiter die Zügel los, schaut unvermittelt und ruhig den Wanderer an und antwortet gelassen:
„Weiss ich nicht. Frag das Pferd.“
Dabei deutet er auf das Pferd, das weiterhin in vollem Galopp davonprescht.
Huang Po: Geist des Zen
(Tang Zeit, China)Schauen wir uns zu diesem Thema noch ein Zitat von Huang-po an. Huang-po (gest. 850 n. Chr.) war einer der bedeutendsten Zen-Meister im China der Tang Zeit, der Blütezeit des Zen. Als spiritueller Vater von Linji (jap. Rinzai) legte Huang-po die Grundlagen für die berühmte Rinzai-Schule des Zen.
Gewöhnlich sind die Menschen dem begrifflichen Denken verfallen, das auf den Erscheinungen der Umwelt beruht. Daher stammen ihre Begierden und ihr Hass. Um die Erscheinungen, die euch umgeben, loszuwerden, müsst ihr dem begrifflichen Denken ein Ende setzen.
Hört dieses auf, so sind die Erscheinungen der Umwelt leer. Sind diese leer, hört das Denken auf. Wenn ihr jedoch versucht, die Umwelt auszuschalten, bevor ihr das begriffliche Denken aufgegeben habt, werdet ihr keinen Erfolg haben; ihr werdet vielmehr ihre Macht stärken, euch abzulenken.
Wenn also alle Dinge nichts sind als Geist, ungreifbarer Geist, was hofft ihr dann zu erreichen? Die Schüler der Prajna glauben, dass es überhaupt nichts Greifbares gibt. Darum hören sie auf, an die Drei Fahrzeuge zu denken. Es gibt nur die eine Wirklichkeit, die nicht zu verwirklichen und nicht zu erlangen ist.
Taigu Ryokan: Ich spiele auf dem Buddha-Weg
Und zum Abschluss noch ein Gedicht von Ryokan, das sehr gut zu diesem Thema passt.
Zu schwach, um meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, habe ich die Dinge sich einfach zum Guten oder Schlechten formen lassen.In meinem Bettelbeutel habe ich bloss drei Handvoll Reis, an meiner Feuerstelle ein Bündel trockener Zweige, um mich warm zu halten.Ich kümmere mich nicht um den feinen Unterschied zwischen wahr und falsch.Den Staub weltlichen Ruhms und Reichtums suche ich nicht zu erlangen.In einer feuchtkalten Nacht, geschützt vom Dach meiner Grashütte, strecke ich beide Beine aus, und mein Gewissen ist vollkommen rein.
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Vielleicht ist es genau das, was bleibt: Ein reines Gewissen. Eine klare, offene Gegenwart. Und zwei ausgestreckte Beine in einer Hütte. Ich wünsche euch alles Gute und Liebe.
Gerne empfehle ich euch auch die beiden zitierten Bücher. Sie sind sehr inspirierend.
Klaus-Peter Seisen Wichmann
Zen-Lehrer der Glassman-Lassalle Linie
kp-wichmann@parami.ch
https://www.parami.ch
Zen-Lehrer der Glassman-Lassalle Linie
kp-wichmann@parami.ch
https://www.parami.ch
26. Juni 2025