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Nicht-Gedanke


Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Thema des Nicht-Gedankens. Der Nicht-Gedanke ist einer der drei Grundlagen der Lehre von Hui Neng. Die drei Grundlagen sind: Nicht-Gedanke, Nicht-Form und Nicht-Verweilen.

In unserer modernen und komplexen Welt mit all ihren Herausforderungen geht uns ständig ein Gedanke nach dem anderen durch den Kopf und dies führt oft in eine Beunruhigung oder sie treiben uns voran. Begleitend erleben wir die äussere Welt (also das was wir im Zen mit Form meinen) als Stimulanz, die wiederum positive wie negative Gefühle und Emotionen erzeugt. Mit einem nach Aussen fokussierten Blickwinkel verlassen wir unsere Mitte und unseren Ruhepol und eilen von einem Moment zum anderen.

Nach Hui Neng legen uns diese drei Verhaltensweisen "Fesseln" an und machen uns unfrei. Zen führt uns dahin, diese Fesseln zu erkennen und uns davon zu befreien. Schauen wir mal, wie das gelingen kann. Dieser Artikel enthält nach einer Diskussion über den Nicht-Gedanken konkrete Übungen für deinen Alltag. Die beiden anderen Grundlagen werden in zwei weiteren Artikeln besprochen. Viel Freude beim Lesen.


Beginnen wir mit dem Nicht-Gedanken. Mit "Nicht" ist gemeint, dass wir unsere dualistischen Wahrnehmungen, das unterscheidende Denken und die entsprechenden Äusserungen erkennen und aufgeben. Dieses Aufgeben darf nicht als "nihilistisch" oder als das Nichts verstanden werden. Es gibt also, wenn wir den Nicht-Gedanken denken, schon ein Denken, nur unterscheidet sich dieses Denken jetzt von einer dualistisch gefärbten Denkart. Hui Neng spricht von "Nicht-Gedanke im Denken". Wenn wir unser unterscheidendes Denken übersteigen, verlieren wir nichts. Wir bleiben handlungsfähig in unserer komplexen Welt.

Hallo, ganz schön happig, geht das auch ein bisschen konkreter?

Ja, das geht und zwar so: Mit unserer üblichen Betrachtung der Welt durch eine dualistischen Brille sehen wir in Allem vornehmlich die Unterschiede. Nehme ich eine Wiese mit viel Abfall von der letzten Party wahr, so denke ich: "Ist dies aber eine dreckige Wiese!". Dass wir etwas als dreckig erkennen, liegt daran, dass wir eine andere Wiese als "sauber" bewerten. Dies ist die Ebene des Unterscheidens oder des Dualismus. Eine Wiese ist dreckig, die andere ist sauber. Eine Nase ist krumm, die andere gerade. Unterschiede wahrzunehmen ist die Funktion unseres Gehirns, das ist gut und völlig ok. Schwierig wird es für dich, wenn du jetzt anfängst zu werten. Ich nehme eine Wiese mit Unrat wahr und damit beginnt die Wertung.

Nehmen wir das Werk "Die Badewanne" des Künstlers Beuys als Beispiel: Eine Putzfrau sah diese Badewanne und entschloss sich, sie vom Fett, Filz und dem Pflaster zu befreien und säuberte sie, was ja auch ihre Aufgabe ist. Beuys dagegen hat es ganz anders gesehen. Für ihn war es sein Kunstwerk und sein künstlicherer Ausdruck. Das heisst, wie wir in die Welt schauen, wird durch unser Werten und Bewerten bestimmt. Damit schaffen wir uns einen eigene, konstruierte Welt und halten dies für die Wirklichkeit. Im Zen nennen wir dies auch Illusion oder Verblendung.

In unserer Essensgata sagen wir unter anderem diese Strophe: "lasst uns Gier, Hass und Verblendung ablegen". Und mit dem Nicht-Gedanken ist das Ablegen der Verblendung eng verknüpft. In der Zazenpraxis sagt der Zenlehrer zu Beginn einer Sequenz oft das Folgende: "Konzentriert euch auf den gegenwärtigen Augenblick und achtet auf eure Gedanken. Wenn ihr merkt, dass ihr euch in Tagträumen verfangen habt und abgeschweift seid, dann holt euch behutsam zurück in diesen Moment und lasst diesen Tagtraum weiterziehen, wie du die Wolken am Himmel weiterziehen lässt."
Dies ist Achtsamkeit und Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick. Falls du dies im Zazen und auch in deinem Alltag kultivierst und dich beharrlich darin übst, wird es dir gelingen, in die vorhandene Stille einzutauchen und aus dieser Stille das Nicht-Denken zu aktivieren. Das Nicht-Denken ist die natürliche Funktion der Selbstnatur oder der Soheit. Wir müssen es nur zulassen.

Die Selbstnatur wurde in hier noch nicht erwähnt. Daher diese kurze Ausführung. Die Selbstnatur ist eine innelebende (inhärente) Grundlage aller Erscheinungen, so zum Beispiel auch von mir oder dir. Jeder Mensch stellt eine Erscheinung dar, die ich mittels Unterscheidung separieren und identifizieren kann. Gleichzeitig verfügt diese Person über die Selbstnatur. Christlich gesprochen entspricht die Selbstnatur "Gottes Weisheit".

Zurück zum Nicht-Gedanken. Wie oben gesagt, ist der Nicht-Gedanke ein Resultat der Selbstnatur, jetzt jedoch frei aller Egoismen und frei von weltlichen, persönlichen Interessen. Das heisst, im Vorhandensein des Nicht-Gedanken lasse ich die Selbstnatur durch mich hindurch wirken. Hui Neng sagt: "Die Selbstnatur weiss alles und durchdringt alles. Sie hat die Fähigkeit alles tief zu reflektieren." Mit anderen Worten: nicht mehr ICH handele, sondern durch mich handelt die Selbstnatur oder Gott. Ist das nicht wunderbar? Apropos wunderbar: wunderbar ist eine Kuh mit Pferdehaar.

Ok, du meinst also, dass wir unsere persönlichen Interessen ruhen lassen sollen und unsere Egoismen in die Schranke verweisen sollen?

Ja, genau darum geht es in der Zenpraxis: das Aufgeben und Überwinden der Egoismen.
Aber Halt, wer sorgt sich dann um mich, wenn ich meine Egoismen aufgebe? Vielleicht verarme ich und ich habe nicht mehr genug Geld um ein entsprechendes, soziales Leben führen zu können.
Kein Problem! Wenn du Kontakt zu deiner innewohnenden Weissheit erlangt hast und aus ihr heraus agierts und lebst, wirst du geleitet von der Weisheit (Prajna) stets angemessen und gut handeln. Und dieses gute Handeln wird dich umsorgen.

Jetzt hast du mich neugierig gemacht! Und wie komme ich dahin?
Gute Frage, ich gehe gerne darauf ein und nenne dir einige Übungen, die du gut in deinen Alltag einbauen kannst.


Übungen zum Nicht-Gedanken
Meditation
Falls du nicht ein Naturtalent bist, benötigst du als Grundlage das kontinuierliche meditieren in Stille oder im Stile des Zazen. Gestalte deinen Tageablauf so, dass du täglich mindestens zwischen 10 und 25 Minuten still und unbewegt meditierst, so wie du es in einem Zen-Einführungskurs gelernt hast. Du brauchst Selbst-Disziplin und es geht nicht ohne sie. Mit zunehmender Praxis wird die Selbstdisziplin natürlich gestärkt und es wird dir immer leichter fallen, dran zu bleiben. Übe dich während der Meditation darin, deine wilden Gedanken in den Griff zu bekommen. Lass sie immer wieder weiterziehen, wie du die Wolken am Himmel vorbeiziehen lässt. Mit viel Übung wirst du eines Tage zum Punkt kommen, an dem du die tiefe Stille in dir wahrnimmst und aus dieser diese Stille heraus der Geist der Soheit präsent ist. Und aus diesem Geist entspringt der Nicht-Gedanke. Konkret: übe dich fortwährend achtsam ohne Ablenkungen in der Meditation.

Übrigens in Stille meditieren heisst nicht, dass du keine Gedanken mehr hervorbringst. Erstens ist dies eh sehr schwierig und andererseits wärst du damit "wie tot". Meditieren ist etwas Lebendiges und in diesem Lebendigen sind Tagträume und unterscheidende Gedanken abwesend.  
Überprüfe deine Gedanken   
Im Alltag tauchen bei dir viele Gedanken über deine Mitmenschen und ihre Ansichten und Handlungen auf. Beobachte dich dabei, inwieweit du die Menschen und ihre Handlungen bewertest und vor allem, ob du sie abwertest. Achte auf deine Bewertungen, sie sind das eigentliche Übel, welches dich an die dualistische Welt fesselt und es verhindert den oben beschriebenen Geist zu aktivieren.

Frag dich doch mal, was es dir wirklich bringt, über einen Menschen schlecht zu denken, ganz zu schweigen, darüber mit anderen zu sprechen. Fangen wir mit dem Sprechen an:

  • Vermeide es über andere Menschen zu tratschen und seine Verfehlungen anderen mitzuteilen. Hui Neng sagt, wenn du die Verfehlungen der anderen anprangerst, so vergrösserst du nur dein eigenes Verfehlen.

  • Jetzt übe dich darin, gedanklich andere Menschen nicht mehr zu bewerten. Sieh alle Menschen so an, wie sie sind. Ein Mensch mt krummer Nase hat eine krumme Nase, aber auch nicht mehr. Die eine ist krumm, die andere gerade. Zwischen krumm und gerade gibt es eigentlich keinen Unterschied, diesen machst nur du selber und konstruierst dir damit deine persönliche Geschichte und hälst dies für die Wirklichkeit. Je mehr du dich darin übst, wirst du erkennen, wie gut es tut, hier nicht mehr unterscheiden zu müssen.

  • Hui Neng sagt im Plattform Sutra das Folgende: "Betrachte jeden Menschen, den guten wie den schlechten, ohne zu ergreifen und ohne abzulehnen. Vermeide Befleckung durch Anhaften."

  • Denke über das Zitat von Hui Neng nach, wiederhole es in deinem Geist und zwar immer dann, wenn du dich dabei erwischst, dass du Menschen ungerechtfertigt bewertest, ablehnst oder auch von ihm begeistert bist. Ja auch die Begeisterung gilt es, sein zu lassen.    
Fazit
Den Nicht-Gedanken denken hört sich wie ein Widerspruch an und zwar dann, wenn wir diesen Satz mit unserer unterscheidenden Sichtweise betrachten. Gelingt es uns durch die kontinuierliche Meditationspraxis in eine tiefe Stille einzutauschen und üben wir uns gleichzeitig im Alltag unsere Gedanken zu kultivieren, kann dies den Geist der Soheit in uns lebendig werden lassen.

Die natürliche Funktion dieses Geistes ist der Nicht-Gedanke. Er heisst Nicht-Gedanke, da er frei von Wertungen und Bewertungen ist. Diese Nicht-Gedanken ermöglichen ein Leben und Wirken aus der Mitte heraus, lösgelöst von meinen Egoismen.  

Um dieses zu ermöglichen ist es nötig, regelmässig zu meditieren und an seinen Gedanken und seiner Gewohnheitsenergie zu arbeiten.
Referenzen
Buchtipp: Plattform-Sutra, erschienen im Angkor Verlag, deutsche Übersetzung von Guido Keller und Tarao Yamada, ISBN 978-3-943839-54-8, 2019. Dieses Buch enthält keine Kommentare.

Buchtipp: Das Sutra des Sechsten Patrirachen, mit Erläuterungen des Zen-Meisters Soko Morinaga Roshi, erschienen im O.W. Barth Verlag, 1989. Kann im Buchhandel nicht mehr erworben werden, jedoch findet man gebrauchte Exemplare im Antiquariat.

Im Plattform-Sutra des Angkor Verlages finden sich die Ausführungen zu diesem Thema im Kapitel IV "Meditation und Weisheit" auf Seite 41 und in der Version des O.W. Barth Verlages im Kapitel 19, Seite 69.   

Bilder: pixabay.
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Klaus-Peter Wichmann
Zen-Assistenzlehrer der Glassman-Lassalle Linie

kp-wichmann@parami.ch
www.parami.ch
29. März 2023




Audio
Audio Aufnahme zum Artikel "Nicht-Gedanke" aus dem Plattform Sutra, Kapitel IV, Seite 41 bis 43. Mit freundlicher Genehmigung des Angkor Verlages. Übersetzung ins Deutsche von Guido Keller und Taro Yamada. ISBN: 978-3-943839-54-8. By the way: Der Angkor Verlag ist spezialisiert auf die Publikation buddhistischer Schriften. :-)
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